Ein Erfahrungsbericht über die Arbeit mit Kriegsflüchtlingen

von Malgorzata Martin, Coach/Trainer

 

Zu neuem Leben erweckt …  

Als ich im letzten Herbst nach einem Praktikumsplatz suchte, bin ich auf die Flüchtlingsunterkunft „Linde“ aufmerksam geworden. Im Dezember habe ich dort mit den Flüchtlingen und einigen ehrenamtlichen Frauen Weinachtsplätzchen gebacken. Damals wusste ich noch nicht, dass ich eine Begegnung mit wunderbaren Menschen machen werde. Ich habe dort Kinder, Frauen, Männer verschiedenster Herkunft und Alter kennengelernt. Alle konnten nur wenig Deutsch und ich wenig Englisch, und trotz der Sprachbarriere konnten wir uns vom ersten Moment an gut verstehen. Das Lächeln und die Körpersprache haben uns geholfen, sich auf einer anderen Ebene zu verständigen und das Vertrauen zueinander konnte wachsen. Aus der Begegnung mit den vielen Menschen, die ich kennengelernt habe, möchte ich einen für mich besonderen jungen Mann, der gerade 30 Jahre alt geworden ist, beschreiben. Sein Name ist Mohamad.

 

Im Kampf mit posttraumatischem Stress

Mohamad kommt aus Syrien und wohnt seit 8 Monaten in der Flüchtlingsunterkunft. Ich habe ihn beim ersten Bastelnachmittag nicht bemerkt, da sein Freund Ziad mit seinem extrovertierten Lächeln und Humor die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Die beiden aus Syrien stammenden Freunde haben sich in Deutschland kennengelernt. Mit der Zeit bin ich für sie wie eine Schwester, Freundin und Therapeutin geworden. Wir haben in kurzer Zeit viel miteinander erlebt. Eines Tages bekam ich einen Anruf aus der Klinik: „Bitte kannst du kommen, Mohamad geht es nicht gut – er braucht dich!“ Ich höre heute noch die Stimme von Ziad und wie wichtig es für ihn war und wie viel Angst er um seinen Freund in dem Moment hatte. Ich bin sofort in die Klinik gefahren. Mit rasendem Herzschlag, voller Ungewissheit. Mohamad lag im Krankenzimmer ohne einen Hauch von Leben. Um ihn standen seine Freunde, die ihn begleitet hatten und warteten auf mich. Dieser Moment ist unbeschreiblich. Ich war gerührt, wie sie sich um Mohamad kümmerten. „Ich bin da“ sagte ich und konnte das Lächeln erkennen mit dem Mohamad mir antwortete. Mohamad blieb noch zwei Tage in der Klinik, bis alle Untersuchungen abgeschlossen waren. Er fühlte sich zerstört und desorientiert. „Was habe ich, was sagen die Ärzte?“, wollte er wissen und rauchte dabei. Ich ertrank in den Rauchwolken. „Du hast viel Stress in letzter Zeit und du rauchst zu viel“, war meine Antwort. Durch das lange Warten auf Asyl hatte er die Zuversicht verloren, er war ohne Hoffnung. „Sie wollen mich nicht in Deutschland. Ich bekomme keinen Pass! Warum antworten die Behörden nicht?“ Viele Fragen, die ich ihm nicht beantworten konnte. Nach dem Aufenthalt in der Klinik hat sich Mohamad stabilisiert und ist aktiver in den Deutschkursen geworden, die in der Unterkunft ehrenamtlich angeboten wurden. Vor der Osterzeit habe ich einen kreativen Nachmittag organisiert und ich konnte beobachten, wie sich Mohamad weiter integrierte. Er zeigte großes Interesse an gestalterischen Aufgaben und hat ein gutes Gespür für Farben. Ihm war es sehr wichtig dabei zu sein. Doch der Rückschlag hat nicht lange auf sich warten lassen. Bald bekam ich einen Anruf in der Nacht von Ziad: „Mohamad geht nicht gut, kannst du kommen.“ Ich bin gefahren wie ein Rettungswagen in dieser Nacht. Mohamad lag in seinem Zimmer und Ziad war völlig aufgeregt und hilflos: „Ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Mohamad lag fast bewusstlos da, wie in einer Ohnmacht. Sein Herz schlug sehr schnell. „Mohamad hörst du mich?“ habe ich gefragt, aber ich bekam keine Antwort. Seine Augen waren geschlossen, die Hände verkrampft. Ein Anfall. Wir konnten nur warten, bis er zu sich kam. Die Anfälle wurden häufiger, immer wieder ein Zusammenbruch, ob bei einem Ausflug, im Deutschunterricht oder während einer Autofahrt. Als Ansprechpartnerin habe ich alle Unterlagen über seinen Zustand erhalten, sozusagen eine Vollmacht. Das hat die Arbeit mit den Ärzten und Rettungsdiensten erleichtert. Nacht und Tag voll im Einsatz. Viele Stunden, die uns noch mehr zusammen gerückt haben. Mohamad öffnete sich immer mehr und begann über sich zu erzählen. So konnte ich über sein Schicksal und seine Kindheit mehr erfahren.

 

Schicksalsschläge

Mit zehn Jahren erleidet Mohamad sein erstes Trauma. Er überlebte, wie durch ein Wunder als Einziger unverletzt ein schlimmes Busunglück. Drei Jahre lang kann er den Unfall und den Duft des Busfahrers nicht vergessen. Als Mohamad zwanzig ist, stirbt sein geliebter Vater plötzlich. Von diesem Schock und Verlust eines geliebten Menschen hat sich Mohamad bis heute nicht erholt. Das Schicksal forderte noch mehr. Mohamad durfte seine Freundin nicht heiraten, mit der er seit vier Jahren zusammen war. Die Heirat war durch die Klassenunterschiede der Familien unmöglich. Wäre er weiter mit seiner Freundin zusammengeblieben, hätten die Brüder sich seiner angenommen. Mohamads Freundin heiratete also einen anderen Mann. Er als Friseurmeister machte ihr die Haare zu ihrer Hochzeit!

 

Auf der Flucht vor dem Krieg

Der Bürgerkrieg, der in Syrien 2011 begann und zum bewaffneten Konflikt eskalierte, hat mittlerweile 160.000 Menschen getötet. 2,6 Millionen Syrer flohen aus ihrem Land und 9 Millionen Menschen befinden sich innerhalb Syriens auf der Flucht. Auch Mohamad ist geflohen. In einem Dieseltank eines Lasters versteckt. Viele Stunden ist er in der Dunkelheit, tropischer Hitze, ohne Luft, Essen, Trinken oder Toilette bis zur nächsten Grenze gefahren. In Griechenland wurde er als Flüchtling verhaftet und wie ein Verbrecher mit Handschellen in ein dunkles Gefängnis abgeführt. Dort verbrachte er sechs Monate ohne Licht und Würde. Das Essen wurde mit dem Fuß vom Wärter in die Zelle geschoben. Dank seiner Verwandten in Deutschland und dem Einsatz des Konsulats gelang es, dass Mohamad weiterziehen konnte. Zuerst nach Italien und dann ins lang ersehnte Deutschland. Nach mehr als einem Jahr, seit seiner Flucht aus Syrien, kam Mohamad in der Gemeinschaftsunterkunft „Linde“ zur Ruhe. Ein Ort, der Sicherheit und Freiheit bedeutete, erweckte zunächst große Hoffnung! Aber acht Monate ohne Arbeit und täglicher Struktur, acht Monate des Wartens auf eine Nachricht aus Karlsruhe, ließen Mohamads Depression beginnen. Jede Nacht hatte er schreckliche Träume von seiner Heimat Syrien und Ängste vor den Kriegsszenen dort. Tagsüber dann neue Nachrichten von seiner Familie, die noch in Damaskus leben müssen.

 

Wie sich Vertrauen und Hoffnung entwickelt

Für Mohamad war es wichtig, zu einem Menschen Vertrauen zu haben und wieder Sicherheit zu erleben. Jemanden, mit dem er seine Sorgen und Kummer teilen kann. Sein Zimmernachbar Ziad war für das erste halbe Jahr diese Vertrauensperson. Nicht verwunderlich, dass für Mohamad eine Welt zusammenbrach, als Ziad seinen Pass bekam und nach Berlin zu Verwandten umzog. Natürlich freute er sich auch für ihn, aber ab jetzt musste er das Warten allein aushalten.

 

Gemeinsam haben wir viel erlebt und er wurde langsam auch Teil meiner Familie. So durften sie für uns syrische Gerichte kochen und mit meiner Familie speisen. Mohamad hatte auch das Bedürfnis endlich wieder Haare zu schneiden. Ich habe ihm voll vertraut und meine langen Haare zum Stylen überlassen. Danach habe ich einen glücklichen Menschen gesehen, der seit zwei Jahren keine Haare schneiden und stylen durfte. Wir beide waren mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Wir erkundeten den Bodensee, seine Vielfalt an Sehenswürdigkeiten und gestalteten den Alltag nach seinen Vorlieben. „Ich möchte in die Kirche gehen, um zu beten“, war einer seiner Wünsche. Die Wallfahrtskirche Birnau am Bodensee würde ihm sicher gefallen. Ich hatte Tränen in den Augen und war glücklich, dass er als Moslem mit meiner Familie einen katholischen Gottesdienst gefeiert hat. Wir waren alle beeindruckt und der Tag bleibt für uns alle unvergesslich. Mohamads Wunsch eine Therapie zu beginnen, war für uns eine echte Herausforderung. Es gibt verschiedene Therapieplätze, wo Flüchtlinge ihre Erlebnisse und Traumata verarbeiten können. Allerdings sind Wartezeiten von fünf bis sechs Monate keine Ausnahme. Für Mohamad wäre es unerträglich gewesen weiterhin zu warten. Dazu kommt die Einschränkung Baden-Württemberg nicht ohne Genehmigung zu verlassen, was weitere Wartezeiten bedeutete. Wir fanden dann einen Heilpraktiker für Homöopathie, der bereit war, uns entgegen zu kommen. Für Mohamad war dieses Gespräch die beste Therapie. Er sagte: „Bei so einem guten Arzt war ich noch nie. Er hat mich verstanden, ich bin glücklich.“ Die Homöopathie hat uns beiden geholfen. Mohamad kann wieder ohne Alpträume die ganze Nacht durchschlafen und hat mehr Energie für den Tag. In den letzten drei Monaten konnte ich beobachten, wie sein Zustand, sowie auch seine Deutschkenntnisse sich von Tag zu Tag verbesserten. Wir können uns schon gut verstehen und viel mehr miteinander Lachen. Ich wurde gefragt, was mich bewegt mit den Flüchtlingen zu arbeiten. Ich bin immer wieder beeindruckt, wieviel Kraft und Mut Mohamad jeden Tag aufbringt. Selbst wenn es schwer ist, aufzustehen und von Neuem anzufangen. Für mich ist Mohamad ein ganz großes Vorbild geworden, nicht aufzugeben wenn es schwierig wird. Sein Mut und Wille ist beispielhaft. Mohamad ist zu neuem Leben erweckt…